Fieseler Fi 103
Reichenberg -
die bemannte Flugbombe
Mit der Kapitulation der deutschen Truppen in Stalingrad am 21. Januar 1943 musste allen militärisch geschulten
Menschen klar sein, das Deutschland kaum noch Chancen hatte den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Sollte den
Westalliierten die Invasion in Frankreich gelingen, war das Schicksal Deutschlands besiegelt. Die Alliierten würden
mit einer riesigen Flotte von England aus übersetzen. Die ohnehin geschwächte deutsche Flotte wäre nicht zur
Abwehr in der Lage. Jeder alliierte Soldat, jeder Panzer, der das Festland erreichen würde, müsste einzeln bekämpft
werden. Die einzige Chance der Wehrmacht bestand darin, möglichst viele Transportschiffe vor der Anlandung aus
der Luft zu versenken.
Deutsche Bomber würden nur in geringer Zahl in den Invasions-Luftraum eindringen können und dann nur schwer
einen genauen Bombenanlauf auf ein Schiff fliegen können. Einer, der sich ernsthaft Gedanken um die Abwehr der
Invasion machte, war der Lastenseglerpilot Oberleutnant Heinrich Lange. Er hatte mit einem Sturmsegler den
Angriff auf die belgische Festung Eben Emael mitgeflogen und am 10. Mai 1940 Fallschirmjäger direkt auf dem Dach
des Bunkers abgesetzt. Die Stimmung unter den Lastenseglerpiloten war niedergeschlagen. Viele von ihnen verloren
ihr Leben bei Transportaufgaben. Wenn schon sterben, so war in Gesprächen immer wieder zu hören, dann
wenigstens dem Gegner großen Schaden zufügen. Lange schwebte eine bemannte Bombe mit Flügeln vor, die einen
Sprengkopf von etwa drei Tonnen genau ins Ziel bringen konnte. Der freiwillige Pilot würde dabei sein Leben
verlieren.
Nach endlosen Diskussionen und Entwürfen, bestand die am schnellsten zu verwirklichende Lösung in einer
Umrüstung der Flugbombe Fi 103 zu einer bemannten Maschine. Die notwendigen Arbeiten wurden an die
Henschel-Flugzeugwerke nach Berlin-Schönefeld vergeben. Hier wurde nicht nur die bemannte Bombe sondern
auch die entsprechenden Schulflugzeuge entwickelt. Ohne dass Werbung für den “Selbstopfer”-Einsatz gemacht
wurde, meldeten sich auf Gerüchte hin über 1000 Piloten freiwillig. Schließlich verbot die Luftwaffe die Abgabe von
Freiwilligenmeldungen.
Der erste Prototyp einer bemannten Fi 103, der unter dem Tarn-Firmennamen “Reichenberg” als Re 1 bezeichnet
wurde, startet Ende August 1944 von einer Heinkel He 111 aus. Der Versuch fand auf der Luftwaffen-Versuchsstelle
Lärz statt, der Pilot ist unbekannt, vermutlich war es Fieseler-Testpilot Willy Fiedler. Die Maschine hatte kein
Triebwerk, sie flog als Gleiter. Nach sechs Minuten landete die Re 1 glatt. Beim zweiten Flug an diesem Tag durch
den Rechliner Versuchsflieger Rudolf Ziegler wurde die Maschine bei der Landung zerstört und Ziegler schwer
verletzt.
Die nächsten beiden Versuchsflüge erfolgten durch Rechliner Piloten. Diese Prototypen verfügten jetzt über ein
Triebwerk. Eine Maschine stürzte ab, die andere wurde wieder bei der Landung zerstört. Vier Flüge - drei Flugzeuge
zerstört. Kein guter Beginn der Flugerprobung!
Mit einem einfachen Ausbau der automatischen Steuereinrichtungen der Fernbombe und dem Einbau eines Cockpits
war es nicht getan. Der Rumpf musste um 25 cm verlängert werden. Einer der beiden Presslufttanks musste zur
Förderung des Treibstoffs beibehalten werden und wanderte in das Heck. Noch größer waren die Umbauten bei den
Trainerversionen. Hier musste ein zweites Cockpit für den Fluglehrer anstelle des Sprengkopfes installiert werden,
dazu wurde der gesamte Rumpfbug erneuert.
Im Jahr 2013 hatte in Nürnberg der bekannte Spezialist für die Fi 103, Alexander Kuncze, die Restaurierung von
zwei Reichenberg Re 4a Selbstopferbomben abgeschlossen. Einige Fotos seiner außerordentlich präzisen Arbeit
vermitteln einen guten Eindruck von Details des Flugzeugs.
Für die Einsatzvariante der Reichenberg wurden in Schönefeld verschiedene Sprengköpfe entwickelt. Neben dem
üblichen Sprengkopf der Fi 103 mit einer Füllung von Trialen gab es noch spezielle Versionen. Aus vorhandenen
Marine-Artilleriegranaten Kaliber 42 cm wurde ein Sprengkopf mit dem vermutlichen Ziel einer höheren
Durchschlagskraft gebaut. Schlugen diese Geschosse etwa des Schlachtschiffes “Bismarck” mit zweifacher
Schallgeschwindigkeit ein, so kann eine ähnliche Wirkung der Reichenberg bei maximal 800 km/h bezweifelt
werden. Bei Henschel wurde durch Professor Herbert Wagner (dem Schöpfer der Anti-Schiffs-Lenkwaffe Hs 293) ein
Unterwasserlauf-Sprengkopf getestet und gebaut. In einer Holzverkleidung am Rumpfvorderteil befestigt, sollte sich
der Sprengkörper beim Eintauchen ins Wasser von der Reichenberg lösen, unter des angezielte Schiff gleiten und
dort explodieren.
Die Produktion der Reichenberg wurde von Henschel, erst in Schönefeld, dann im Ausweichbetrieb in Gollnow
durchgeführt. Nach heute bekannten Angaben wurden so 250 Stück Einsatz-Reichenberg gefertigt. Da sich die SS
auch dieser Geheimwaffe bemächtigte, sind keine weiteren Angaben erhalten. Auf Fotos amerikanischer Eroberer
der Fieselerwerke bei Kassel sind aber auch versandfertige Reichenberg-Rümpfe abgelichtet. Ebenso kann man
noch heute in der Gedenkstätte Dora/Mittelbau im Grundwasser Rümpfe von Fi 103 und Reichenberg sowie die
Instrumentenbretter der Reichenberg sehen. Es wurden also mit Sicherheit mehr als nur die von Henschel
gefertigten Re 4a hergestellt.
Unter dem Kommando des Kampfgeschwaders 200 wurde eine kleine Einheit von Reichenberg-Piloten auf dem
Flugplatz Prenzlau geschult. Dem Kommodore Werner Baumbach ging aber der Gedanke einer bewussten Opferung
von Soldaten gegen den Strich. er schaffte es, die Einheit aufzulösen. Beim letzten bekannten Übungsflug einer
Reichenberg kam am 5. März 1945 Leutnant Starbati ums Leben, nachdem sich kurz nach der Trennung vom
Trägerflugzeug, die beiden Tragflächen der Reichenberg lösten. Danach wurden die Arbeiten offiziell eingestellt.
Wenn auch nicht mit der Reichenberg, so stürzten sich kurz vor Kriegsende doch noch freiwillige Selbstopferpiloten
mit sprengstoffbeladenen Flugzeugen auf Brücken an der Oder. Ein wirklicher Einsatz einer Reichenberg ist dagegen
nicht belegt.
Turbomistel als letzter Ausweg
Als Anfang 1945 Piloten ihre Schulung für die Reichenberg abgeschlossen hatten und etliche Flugkörper bereit
standen, war ein Einsatz der Selbstopferbombe, wie bisher geplant, nicht mehr möglich. Es gab kaum noch
Trägerflugzeuge. Die Produktion der He 111 war eingestellt und das Kampfgeschwader 53 hatte fast alle seine
Trägermaschinen verloren. Die Träger mit untergehängter Flugbombe waren eine leichte Beute für alliierte Tag- und
Nachtjäger. Noch dazu stürzten beim Luftstart der unbemannten Fi 103 fast die Hälte aller Flugkörper unmittelbar
nach dem Abwurf ab. Dies konnte den Selbstopfer-Fliegern keineswegs zugemutet werden. Die begrenzte
Reichweite und Geschwindigkeit und auch der für wichtige Ziele nicht ausreichende Sprengkopf ließen keine
durchschlagenden Erfolge zu.
Als Lösung aller dieser Probleme entstand 1945 das Projekt einer Kombination mit dem Sprengstoffträger auf Basis
der Me 262. Dieses Fluggerät war dazu noch eigenstartfähig und hatte die von den Selbstopferpiloten geforderte
schwere Sprengladung. Ursprünglich war als Trägerflugzeug die Me 262 mit liegendem Bombenschützen in der
Rumpfnase vorgesehen. Der Sprengstoffträger sollte nach der Trennung vom Bomber mittels einer Fernsehkamera
in der Spitze vom Bombenschützen ins Ziel gelenkt werden. Die Kombination wäre von einem raketengetriebenen
Startwagen aus gestartet. Dieses Projekt wurde bei Messerschmitt auch noch separat weiterverfolgt.
Als Selbstopfer-Mistel mit der Reichenberg, hätte diese Kombination über eine genügende Reichweite,
Eigenstartfähigkeit und höhere Geschwindigkeit verfügt und noch dazu das Vielfache der Reichenberg-Sprengladung
ins Ziel gebracht. Letztlich war es aber eines der vielen Verzweiflungs-Projekte, die in der Endphase des Dritten
Reiches enstanden.
Text:
- Uwe W. Jack
Fotos
:
- Restaurierungsfotos mit freundlicher Genehmigung von Alexander Kuncze
und Sammlung Uwe W. Jack
Grafiken
- Uwe W. Jack
Das Cockpit der Reichenberg war nur sparsam ausgestattet.Von links: Der rote
Scharfschalter für die Sprengladung (in “AUS”-Stellung), Borduhr, Fahrtmesser,
Höhenmesser und Wendeanzeiger. Unter dem Instrumentenbrett befindet sich der
Kreiselkompass mit Anzeige und die Batterie. Der Zylinder des Umformers liegt quer
darunter. Unter dem roten Sprengschalter befindet sich der Treibstoffregler.
An der linken Cockpitwand läuft die dickere Treibstoffleitung zum Triebwerk. Links liegt der
Befüllanschluss für den Presslufttank mit dem Regelhahn. Oben ist der Hebel der
Kabinenverriegelung zu sehen und unten ragt noch der Knauf des Steuerknüppels ins Bild.
Ein Blick von oben auf die hervorragende Arbeit von Alexander Kuncze. Hier ist der
Zielstachel an den vorderen Frydag-Kupplungen zu erkennen, eine Zielvorrichtung, die an
Primitivität nicht zu unterbieten ist. Die Querruder wurden einfach an Scharnieren hinter die
normale Fi-103-Tragfläche gehängt.
Das Triebwerk der Reichenberg hätte vermutlich nur beim Start mit dem Startwagen bis zur
Erreichung der Reiseflughöhe und beim Eindringen in den gegnerischen Luftraum bis zum
Aufschlag gearbeitet.
Diese nach dem Krieg in Antwerpen gezeigte Reichenberg Re 4a mit der Werknummer 139 hat
die Holzspitze, in welche der Unterwasserlaufkörper eingebaut werden sollte.